Liebe Freundinnen und Freunde,
heute ist kein gewöhnlicher Tag. Denn heute liegen wir, um sichtbar zu werden. Weil zu viele Menschen seit Monaten, seit Jahren – wortwörtlich – am Boden liegen. Und weil es die Aufgabe einer solidarischen Gesellschaft ist, denen eine Stimme zu geben, die selbst keine Kraft mehr haben, sie zu erheben.
Wir sprechen über ME/CFS, aber auch über Long Covid, über Post Vac. Über Erkrankungen, die Millionen betreffen. Allein in Schleswig-Holstein – konservativ geschätzt – rund 90.000 Menschen mit Long Covid, mehrere Tausend mit ME/CFS. Und doch: noch immer ist das gesellschaftliche Schweigen oft lauter als die Stimmen der Betroffenen.
Diese Krankheiten sind nicht selten. Sie sind auch nicht neu. Aber sie sind unbequem – für eine Politik, die zu lange auf Zahlen, nicht auf Menschen geschaut hat. Für ein Gesundheitssystem, das auf Aktivierung statt auf Rücksicht gebaut ist. Und für eine Gesellschaft, in der „nicht funktionieren“ schnell mit „nicht wollen“ verwechselt wird.
Doch ME/CFS ist kein „bisschen müde sein“. Long Covid ist kein „Zustand der Erschöpfung“. Und Post Vac ist kein Tabuthema. Es geht hier nicht um Meinung – es geht um Wissenschaft. Es geht um Menschen. Es geht um Wahrheit.
Was heißt das konkret?
ME/CFS ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung. Ein zentrales Symptom: PEM – die postexertionelle Malaise. Eine Symptomverschlechterung nach geringster Anstrengung – körperlich oder geistig. Ein kurzes Gespräch, ein Geräusch, ein Spaziergang – und der Körper bricht zusammen. Reha-Maßnahmen, wie wir sie kennen, wirken hier oft nicht – sie verschlimmern den Zustand. Und dennoch werden sie verordnet. Noch immer.
Wir sprechen über Menschen, die oft nicht mehr das Haus verlassen können, die im Dunkeln liegen, weil Licht schmerzt. Die vom eigenen Körper verlassen wurden – und vom System gleich mit.
Und trotzdem müssen sich viele rechtfertigen. Für eine Krankheit, die längst durch Blutwerte, Nervenschäden und Autoantikörper nachweisbar ist. Trotzdem erhalten sie Psychodiagnosen, weil Ärztinnen und Ärzte in ihrer Ausbildung nie etwas von ME/CFS gehört haben. Und weil unser Versorgungssystem auf Wegsehen statt Hinschauen eingestellt ist.
Dabei gäbe es so viel zu tun:
- Eine konsequente Umsetzung der LongCovid-Richtlinie des G-BA – nicht nur in Zentren wie Kiel oder Lübeck, sondern flächendeckend.
- Eine gezielte Aufklärungskampagne über PEM, ME/CFS und Long Covid – in der Bevölkerung und bei Ärztinnen und Ärzten.
- Eine bessere Finanzierung für bestehende Therapien – viele Betroffene zahlen heute aus eigener Tasche.
- Und: eine klare politische Haltung – auch zum Post-Vac-Syndrom. Das Verschweigen hilft niemandem, außer denen, die Verantwortung scheuen. Hilfe darf nicht von der Ursache abhängig gemacht werden.
Und dann ist da noch die Statistik:
Oder besser gesagt: das, was wir dafür halten. Denn wer nicht mehr zur Ärztin kommt, erscheint in keiner Statistik. Wer zu krank ist, einen Antrag zu stellen, bleibt unsichtbar. Und wer in Schleswig-Holstein keine Hilfe findet, fährt nach Hamburg, Münster oder bleibt zu Hause. Das ist kein Versorgungssystem – das ist Kapitulation.
Aber wir kapitulieren nicht.
Wir sind hier. Wir zeigen Gesicht – für die, die selbst nicht mehr stehen können. Und wir sagen: Es reicht.
Es reicht mit dem Gerede von Einzelfällen.
Es reicht mit dem “Wir wissen noch zu wenig”.
Es reicht mit dem “Da kann man nichts machen”.
Denn wir können etwas machen. Wir können zuhören. Wir können fördern. Wir können medizinisches Wissen ausbauen. Und wir können – ganz einfach – anfangen, die Betroffenen ernst zu nehmen.
Liebe Freundinnen und Freunde,
ich danke allen, die heute hier liegen – in Schmerz, aber auch in Solidarität. Und ich verspreche euch: Wir nehmen eure Stimme mit. In die Parlamente, in die Medien, in die Forschung. Und wir geben nicht auf – weil ihr nicht aufgegeben habt.
Lasst uns gemeinsam sichtbar bleiben. Für Gerechtigkeit. Für Versorgung. Für Gesundheit und Krankheit in Würde.
Vielen Dank.